Was ist der Unterschied zwischen Introvertiert und schüchtern?
INTROVERTIERT VS. SCHÜCHTERN
Gastbeitrag von Mim Gaisser
Introvertiert vs. schüchtern – Warum es nicht dasselbe ist
“Sei nicht so schüchtern!”
“Komm mal mehr aus dir raus!”
“Du musst mehr Selbstbewusstsein aufbauen!”
“Erzähl doch auch mal was!”
Kommen dir diese Aufforderungen bekannt vor? Bingo! Dann bist du entweder introvertiert oder schüchtern.
Wenn du dich jetzt fragst: “Hä, ist das nicht dasselbe?”, dann befindest du dich in bester Gesellschaft. Denn Schüchternheit und Introversion werden oft verwechselt, obwohl es sich dabei um zwei verschiedene Zustände handelt.
Was genau der Unterschied ist, erfährst du in diesem Artikel.
Schüchternheit: Angst vor Menschen
Schüchternheit ist an sich kein Charaktermerkmal, sondern eine Form der sozialen Angst. Sie ist nicht angeboren, sondern wir haben sie uns im Laufe unseres Lebens angeeignet – häufig bereits in der Kindheit.
Es gibt dafür vielerlei Ursachen:
- Probleme im Elternhaus
- Probleme im näheren Umfeld
- Vernachlässigung (auch emotional)
- Mangelnde Unterstützung deines Umfelds
- Ständige Kritik des Umfelds der eigenen Persönlichkeit oder Leistung
- Verlust von Menschen, die dir wichtig waren
- Mobbing
- Ausgrenzung, da man Teil einer Minderheit ist (das Gefühl “anders zu sein” oder “nicht dazuzugehören”)
- Schwierigkeiten beim Dating (insbesondere in der Pubertät)
Natürlich gibt es noch mehr Gründe, aber dies sind die häufigsten.
Wir sehen also: Ein Mensch kommt nicht schüchtern zur Welt, sondern wird es allmählich, aufgrund negativer Erlebnisse und Einflüsse seiner Umwelt.
Und das kann schon in einem derart frühen Alter passieren, dass manche Leute glauben, sie seien “schon immer” schüchtern gewesen.
Die Forschung hat mittlerweile jedoch festgestellt, dass auch unsere Genetik Einfluss darauf haben kann, ob wir Schüchternheit entwickeln oder nicht. Das bedeutet aber nicht, dass wir aufgrund dieser genetischen Veranlagung definitiv von Geburt an schüchtern sind, sondern nur, dass wir eher dazu neigen, Schüchternheit in Kombination mit anderen Faktoren zu entwickeln.
Und natürlich kann auch das Verhalten unserer Eltern oder anderer wichtiger Menschen in unserer Kindheit eine Rolle spielen. Wenn die Mutter etwa extrem ängstlich ist und das dem Kind vorlebt, kann das Kind sich ebenfalls diese Ängstlichkeit “abgucken“.
Nun die gute Nachricht …
Da Schüchternheit nicht angeboren, sondern “antrainiert” ist (selbst, wenn die genetische Veranlagung dazu besteht), bedeutet das im Umkehrschluss, dass du sie dir auch wieder abtrainieren kannst.
Das ist insbesondere dann relevant, wenn dich deine Schüchternheit belastet.
Diese Angst zu überwinden kostet zwar etwas Zeit und je nach Stärke eventuell therapeutische Begleitung (vornehmlich, wenn bereits eine “sozialen Phobie” vorliegt), aber die Heilungschancen sind gut. Vor allem, wenn du hartnäckig dranbleibst und dich von Rückschlägen nicht entmutigen lässt.
Denn Mut hast du eine Menge, da bin ich mir sicher. Gerade als ängstlicher Mensch. Mut ist nicht das Gegenteil von Angst, sondern das, was wir benötigen, um mit der Angst überhaupt leben zu können – und als ängstlicher Mensch musst du ständig mutig sein, allein schon in völlig alltäglichen Situationen, die anderen überhaupt keine Anstrengung kosten würden.
Daher: Du bist stark! Du schaffst das!
Introversion: Keinen Bock auf Menschen
Die Überschrift ist vielleicht ein wenig flapsig formuliert, aber im Grunde macht sie genau den Unterschied zwischen Introversion und Schüchternheit klar.
Introvertierte Menschen verhalten sich nach Außen hin (!) oft ähnlich wie schüchterne, doch in ihrem Inneren sieht es anders aus.
Introversion ist ein angeborenes Temperament und zeichnet sich dadurch aus, dass introvertierte Menschen ihre Energiereserven aufladen, indem sie sich zurückziehen und Zeit allein oder nur mit einer anderen Person verbringen.
Das stößt bei Extrovertierten häufig auf Unverständnis, denn bei ihnen ist es genau umgekehrt: Sie ziehen neue Energie daraus, sich unter die Leute zu mischen. Für Introvertierte hingegen ist das enorm kräftezehrend und anstrengend.
Auch neigen Introvertierte häufig dazu, sich eher am Rand des Geschehens aufzuhalten, lieber zuzuhören, als zu quasseln, und ruhigere Aktivitäten zu bevorzugen (introvertierte Adrenalinjunkies sind ähnlich rar wie 20 Grad am Südpol).
Das machen sie aber, weil es ihre persönliche Vorliebe und ihr Naturell ist und NICHT, weil sie Angst haben.
Das ist ein ganz bedeutender Unterschied, der leider häufig missverstanden wird, insbesondere von unserem extrovertierten oder ambivertierten Umfeld.
Daher die frohe Botschaft: Introversion kannst du nicht überwinden – musst du aber auch nicht! Denn sie ist einfach deine Persönlichkeit und keine Schwäche, die du bekämpfen musst.
Aber … was, wenn ich beides bin?!
Schüchternheit und Introversion sind zwar nicht dasselbe, treten dennoch häufig in Kombination auf. Es gibt zwar auch schüchterne Extrovertierte, aber die sind selten.
Doch warum kommt Schüchternheit so oft bei Introvertierten vor?
Das hängt zum einen damit zusammen, dass Introvertierte generell eher anfällig für Ängste sind (Stichwort: Overthinking).
Forscher haben herausgefunden, dass die Amygdala (das “Angstzentrum“ im Gehirn) bei introvertierten Menschen aktiver ist, als bei extrovertierten.
Allerdings hat auch noch etwas anderes einen enormen Einfluss: soziale Faktoren.
Die Macht des Umfelds auf das Selbstwertgefühl
Introvertierte werden bereits in frühester Kindheit als “schüchtern” bezeichnet und für ihre ruhige Natur kritisiert. Dadurch denkt der introvertierte Mensch von sich selbst, dass er schüchtern sei (obwohl das möglicherweise gar nicht der Fall ist).
Da wir als Kind noch nicht zwischen aufgezwungenen Rollen und der Realität unterscheiden können, verinnerlichen wir: Ich bin ruhig, das bedeutet, ich bin schüchtern und das ist schlecht. Deshalb bin ich nicht okay so, wie ich bin, und muss mich ändern.
Die Folge: ein niedriges Selbstwertgefühl, was Schüchternheit begünstigt.
Auch die Tatsache, dass Introvertierte häufiger Mobbing, Ausgrenzung und ständiger Kritik am eigenen Verhalten ausgesetzt sind, ist der perfekte Nährboden für die Entwicklung von Schüchternheit oder sogar einer Sozialphobie.
Wir sehen also: Nicht die Introversion selbst ist der Grund für Schüchternheit, sondern wie das Umfeld mit dieser Introversion umgeht.
Denn größtenteils trifft eine ruhige Natur auf viel Unverständnis. Und das liegt meist daran, dass Introversion mit Schüchternheit gleichgesetzt und deshalb als Schwäche betrachtet wird – obwohl sie keine ist.
Introvertiert zu sein, ist genauso normal, wie extrovertiert zu sein.
Fazit: Du bist ein Normalo
Wir sind alle mit unseren ganz einzigartigen Persönlichkeitsmerkmalen auf die Welt gekommen. Keiner gleicht einem anderen Menschen. Und das ist gut so.
Es wird nur dann zum Problem, wenn ein Leidensdruck entsteht.
Das kann bei Schüchternheit generell der Fall sein, aber auch bei Introversion, wenn diese vom Umfeld nicht akzeptiert wird.
Bei Schüchternheit ist es oft schlimmer, weil du auch selbst gerne weniger gehemmt wärst. Glücklicherweise ist dies eine Sache, die du ändern kannst. Denn wie bereits besprochen, ist Schüchternheit kein Charaktermerkmal, sondern eine überwindbare soziale Angst.
Introversion hingegen kannst du nicht “abstellen”, denn sie ist dein angeborenes Temperament. Hier geht es eher darum, dass du lernst, dich selbst so anzunehmen, wie du wirklich bist.
Und dazu gehört auch, dass du deinem Umfeld mitteilst, wie du von ihm behandelt werden möchtest. Du musst kritische Sprüche über dein “zu ruhiges Verhalten” nicht einfach hinnehmen, sondern kannst auch darauf hinweisen, dass du eben so bist und man das bitte akzeptieren soll.
Und dafür musst du dich nicht schlecht fühlen. Es ist dein gutes Recht, nein, im Grunde sogar deine Pflicht, für dich und deine Bedürfnisse einzustehen und deine Grenzen zu wahren. Denn nur so kannst du gut für dich selbst sorgen und dich dadurch besser fühlen.
Wir sind alle individuell und vielfältig. Und das ist ein großes Glück – denn sonst wäre diese Erde ein ziemlich langweiliger Planet.
Über die Autorin
Mim Gaisser ist die Gründerin von still & sensibel, einer der beliebtesten Websites zum Thema Introversion im deutschsprachigen Raum. Sie bloggt bereits seit über 10 Jahren und unterstützt heute als Schreibcoach für Blogs & Content Marketing andere Menschen dabei, ihre Online-Texte zu verbessern.
Mim brennt für die Themen Sprache, Psychologie und Marketing und sammelt in ihrer Freizeit Postkarten aus aller Welt und jeden Schnipsel, der mit Elefanten zu tun hat.